“…aus verborgenen Teilen meines Selbst” | Nachruf Gloria Coates (1933–2023)

Gloria Coates

Gloria Coates © Gloria Coates

“Was auch immer ich erfinde, es ist meine ganz aufrichtige Suche nach der Wahrheit”, erzählte Gloria Coates einst in einem Interview mit Dietlinde Küpper: “Meine Musik drückt meine innere Welt aus. Sie kommt aus verborgenen Teilen meines Selbst, sowohl emotional als auch intellektuell. Es kommt intuitiv durch einen Kanal – die Quelle nenne ich Gott. Wenn ich das Geheimnis dieses Phänomens erfahre, werde ich das Geheimnis des Lebens wissen.”

Formen von Musik

Die Musik kam zu ihr und war schon immer da und musste irgendwie nach außen getragen werden. Auf diese Weise entdeckte Gloria Coates bereits als Kind das Klavier als ‚Übersetzer‘ ihrer innersten Gefühle und experimentierte mit Musik, indem sie improvisierte. Die Musik war da, und es war ein Stück weit wie in einer Backstube: Dort gibt es viele verschiedene Backformen – groß, klein, hoch, tief, kupfern, stählern – die mit diesem ‚Teig‘, den Gloria formen wollte, befüllt werden können. Deshalb war es für sie wichtig, die Musikformen dahinter zu verstehen und sie erhielt mit 14 Jahren in den USA, wo sie in Wausau/Wisconsin am 10. Oktober 1933 geboren wurde, musiktheoretischen Unterricht. Dass sie recht schnell darauf einen renommierten Kompositionspreis gewann, beflügelte sie so, dass sie in Louisiana und New York Komposition studierte sowie Gesang, Schauspiel und – die Malerei. Gloria Coates war ganz Ausdruck. Von ihren Kompositionslehrern wurde sie stark gefördert und konnte ihren eigenen Stil vervollkommnen. Frühe Werke wie eine Bühnenmusik zu Hamlet für Kammerorchester, Theremin und Tonband (1964–1965) zeigten bereits ihre Art, ihre Interessen zu vernetzen, und ihren Experimentiergeist auf.

Aufhorchen

1969 zog sie mit ihrer Tochter nach München. Dass sie häufig zwischen Deutschland und den USA pendelte, wurde bedeutend: Die internationale Frauenbewegung, mitentstanden aus den politischen 1968er-Ereignissen, stand bereits in den Startlöchern für einen Aufbruch. 1975 gründete Gloria Coates die International League of Women Composers. 1978 gelang ihr mit ihrer ersten Symphonie Music on Open Strings – der 16 weitere folgende sollten – beim Festival Warschauer Herbst für Neue Musik der Durchbruch. Dadurch horchte man auch in Deutschland auf, unter anderen auch die Komponistin Barbara Heller, die mit einer Handvoll Kolleginnen, Musikerinnen, Musikwissenschaftlerinnen und Dirigentinnen um Elke Mascha Blankenburg (1943–2013) dabei war, eine Interessengruppe für Komponistinnen, den Internationalen Arbeitskreis Frau und Musik zu gründen. Wer daran mitwirken könnte? Barbara Heller fielen aus dem Stegreif 30 Namen von Komponistinnen ein, darunter auch der von Gloria Coates – im Archiv Frau und Musik sind aus dieser Zeit acht Briefe von ihr an Barbara Heller erhalten.

Neue Wege

Barbara Heller sagt über Gloria Coates:
“Gloria Coates war eine unfassbar wichtige Schlüsselfigur. Musik war ihre totale Erfüllung. Was für eine Freude und unglaubliche Bereicherung, dass sie mit uns ihr Wissen, ihre Kenntnisse und ihre Netzwerke von amerikanischen Komponistinnen geteilt hat. Es war hier ja nichts erhältlich gewesen!”

Nicht nur für den Internationalen Arbeitskreis Frau und Musik war Gloria Coates bedeutend, sondern auch als Mitglied bei musica femina münchen (gegründet 1988). In ihrer Wahlheimat Deutschland organisierte sie in den 1970ern und 1980ern als Netzwerkerin zahlreiche Konzerte mit Werken amerikanischer Komponist*innen. Sie entwickelte und moderierte dazu auch eine Sendereihe für den WDR. In der Medienbranche war sie zuvor bereits in den 1960er Jahren bei einem TV-Sender in Baton Rouge/Louisiana tätig.

Eine ‚erste‘

So war ihre erste Symphonie Music on Open Strings, die schon 1973/74 entstanden war, die erste Orchesterkomposition einer Frau, die nach Gründung des Bayerischen Rundfunks (1945) in der musica viva-Reihe erklang – 1980. Dadurch wurde das renommierte Plattenlabel Naxos auf sie aufmerksam, das fünf ihrer Symphonien und neun Streichquartette herausgab. Gloria Coates leistete wichtige Pionierarbeit für die Frauen, die nach ihr kamen. Sie – deren Glissandi-Klänge zu ihrem Markenzeichen wurden – hatte ein besonderes Ohr in der Musik: Sie hörte nicht nur die regulären Töne, sondern zeitgleich auch deren Ober- und Untertöne. Sie hörte quasi ein parallel geführtes Cluster und hat die Musik doch entkernt, indem sie ihre eigene Art von Minimalismus entwickelte.

Mit ihren Glissandi hatte sie auch ihre eigene Notation erfunden oder erfinden müssen, denn diese Art zu komponieren war zuvor nicht dagewesen. Eine besondere Verbindung hatte Gloria Coates zu den teils rätselhaften und minimalistischen Gedichten von Emily Dickinson (1830–1886), die sie über mehrere Jahrzehnte immer wieder vertonte und daraus auch einen Liederzyklus schuf. In Gloria Coates‘ Nachlass befindet sich eine reiche Sammlung an Dokumenten zu dieser Dichterin.

Der Klang von Farbe – Farbenklänge

Musik war aber nicht das einzige, das Gloria Coates schuf und als Ausdrucksmittel nutzte: Sie komponierte auch mit Farben und hinterließ rund 50 gemalte Werke. Diese Kunst lief parallel zu ihrem Musikschaffen, und es erinnert ein bisschen an das Wirken von Annette von Droste-Hülshoff (1797–1849), die man heute als Dichterfürstin kennt, nicht aber als Komponistin. Bei  Gloria Coates ergänzen ihre gemalten Werke sowie ihre Architekturkenntnisse den Klang ihrer Musik – in ihrem Kunst-Studium an der Cooper Union, einem privat betriebenen College in Lower Manhattan, besuchte sie auch Architekturkurse. Ein paar ihrer Bilder wurden zu Coverbildern ihrer CDs. Im folgenden Interview beschreibt Gloria Coates die Rolle der Malerei in ihren Schaffensprozessen:

1999 feierte die New York Times sie als eine der wichtigsten Symphoniker*innen der Musikgeschichte: “on her way to becoming the most prolific female symphonist ever!”

Sie selbst meinte dazu: “I always had an idea of symphonies being in the 19th century, somehow. I never set out to write a symphony as such. It has to do with the intensity of what I’m trying to say and the fact that it took 48 different instrumental lines to say it, and that the structures I was using had evolved over many years. I couldn’t call it a little name.”

Insgesamt komponierte Gloria Coates zwischen den 1970er und den 2010er Jahren 17 Werke, die sie so bezeichnete. Die Beinamen ihrer Symphonien zeigen einige ihrer Interessen und Überzeugungen auf – beispielhaft können Illuminatio in tenebris (Sinfonie Nr. 2), Indian Sounds (Symphonie Nr. 8), The Force for Peace in War. Cantata da Requiem und Rainbow across the Night Sky für Frauenstimmen und Kammerensemble genannt werden. Ihre 17. und letzte Sinfonie – Fonte di Rimini – komponierte sie 2017. Fast alle von Gloria Coates‘ Kompositionen entstanden direkt im Auftrag von Musizierenden und Musikinstitutionen. Nach dieser Liste ist Gloria Coates die Komponistin, die die meisten Symphonien in der Musikgeschichte überhaupt geschrieben hat.

Gloria Coates ist am 19. August 2023 in München verstorben. Wir sind dankbar, dass wir sie kennenlernen durften, dass sie uns mit ihrer offenen, neugierigen und menschenfreundlichen Art Wegbegleiterin war und hoffen, dass sie das Geheimnis des Phänomens einer Schöpfungskraft erfahren konnte.

Im Namen von musica femina münchen und des Internationalen Arbeitskreis Frau und Musik/Archiv Frau und Musik

Susanne Wosnitzka

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